Über uns
CORE Attorneys ist eine Schweizer Boutique-Anwaltskanzlei mit den Schwerpunkten Wettbewerbs- und Kartellrecht, Regulierung und Vertriebsrecht.
In seinem Urteil vom 29. Juni 2023 in der Rechtssache Super Bock Bebidas SA (Rs C-211/22) stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) fest, dass die vertikale Vereinbarung von Mindestpreisen nicht per se eine unzulässige «bezweckte Wettbewerbsbeschränkung» im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV darstellt. Zum Entscheid geführt hatte ein Vorabentscheidungsverfahren. In dessen Zentrum stand die Frage, ob eine vertikale Vereinbarung über die Festsetzung von Mindestpreisen für den Weiterverkauf (Preisbindung zweiter Hand) per se als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung qualifiziert bzw. ob letztere bei einer Preisbindung zweiter Hand vermutet werden kann.
Übereinstimmend mit seiner konstanten Rechtsprechung fordert der EuGH auch in diesem Urteil explizit eine enge Auslegung von bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen. Die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte haben demgemäss nachzuweisen, dass eine zu beurteilende Abrede den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigt, indem sie «in sich selbst eine hinreichende Beeinträchtigung des Wettbewerbs erkennen lässt» (Rz. 34 des EuGH-Urteils i.S. Super Bock). Die strengen Anforderungen an die Begründung bzw. enge Auslegung von bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen sind in der Praxis von grosser Trageweite, da nur im Falle des Vorliegens einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung auf eine Analyse der konkreten Wirkungen im Einzelfall verzichtet werden darf. Ansonsten obliegt es den Wettbewerbsbehörden, den Unternehmen antikompetitive Wirkungen nachzuweisen, um einen Vorwurf zu erstellen.
Beim erforderlichen Nachweis muss gemäss EuGH insbesondere auf den Inhalt der Vereinbarung, ihre Ziele, den wirtschaftlichen und rechtlichen Kontext und in dessen Rahmen namentlich auf die Art der betroffenen Waren und Dienstleistungen sowie die Funktionsweise und die Struktur des betroffenen Marktes bzw. der betreffenden Märkte abgestellt werden. Damit bestätigt der EuGH erneut seine stehende Praxis für eine enge Auslegung von sog. bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen.
Frühere Entscheidungen hielten diesbezüglich bereits fest, dass für die Annahme einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung nachzuweisen sei, dass diese «[…] ihrer Natur nach schädlich für das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs ist […]» (EuGH, Urteil C‑67/13 P vom 11. September 2014, Rz. 58 – Groupement des cartes bancaires (CB) v Europäische Kommission) oder, dass sich aufgrund aller verfügbaren Beweise ergeben müsse, dass das relevante Verhalten «[…] allein mit dem geschäftlichen Interesse der Parteien […] an der Vermeidung von Leistungswettbewerb erklären lässt […]» (EuGH, Urteil C‑307/18 vom 30. Januar 2020, Rz. 111 – Generics (UK) Ltd et al. v Competition and Markets Authority). In der Konsequenz bedeutet dies, dass für jede Abrede einzelfallbezogen deren Gesamtkontext zu analysieren und zu prüfen ist, ob tatsächlich eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, unabhängig davon, wie vermeintlich schwerwiegend eine Vereinbarung auf den ersten Blick aussieht und ob diese z.B. Preise oder Preiselemente betrifft. Der Entscheid des EuGH bekräftigt damit erneut, dass ein formbasierter Ansatz ohne Berücksichtigung des jeweiligen Kontexts nicht sachgerecht ist.
Innerhalb des wirtschaftlichen und rechtlichen Kontexts sind gemäss EuGH überdies auch vorgebrachte wettbewerbsfördernde Wirkungen zu berücksichtigen. Wenn sich die Parteien der Vereinbarung auf deren wettbewerbsfördernde Wirkungen berufen, sind diese Gesichtspunkte gemäss EuGH als Bestandteile des Zusammenhangs der Vereinbarung zu berücksichtigen: «[…] Soweit derartige Wirkungen erwiesen, relevant, allein auf die Vereinbarung zurückführen und hinreichend erheblich sind, können sie nämlich begründete Zweifel daran aufkommen lassen, dass diese Vereinbarung den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigt […]» (Rz. 36 des EuGH-Urteils i.S. Super Bock). Er bestätigt damit seine Rechtsprechung etwa im Urteil in Sachen Generics UK (EuGH, Urteil C‑307/18 vom 30. Januar 2020, Rz. 111 – Generics (UK) Ltd et al. v Competition and Markets Authority).
Vor diesem Hintergrund ist gemäss EuGH schliesslich unbeachtlich, dass Preisbindungen zweiter Hand gemäss der EU-Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen (Vertikal-GVO) und den entsprechenden Leitlinien als Kernbeschränkungen gelten, die von einer entsprechenden Freistellung (Safe Harbour) ausgenommen sind. Der Begriff der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung ist demgemäss enger als derjenige der Kernbeschränkung. Dem relevanten wirtschaftlichen und rechtlichen Kontext ist auch bei diesen Kernbeschränkungen Rechnung zu tragen. Es besteht gerade kein schlichter Formalismus.
Das EuGH-Urteil ist auch für die Schweiz von grosser Relevanz, zumal sich die Schweizer Wettbewerbsbehörden in ihrer Praxis am EU-Recht und dessen Anwendung durch die Europäische Kommission und die EU-Gerichte orientieren. Auch bei der Anwendung des Schweizer Kartellrechts ist eine vertiefte Einzelfallprüfung und restriktive Auslegung von vermeintlich bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen, namentlich der «Schweizer Kernbeschränkungen» bzw. Vermutungstatbestände nach Artikel 5 Absatz 3 und 4 des Kartellgesetzes, zu fordern. Insbesondere sind sämtliche Abreden in ihrem jeweiligen wirtschaftlichen und rechtlichen Kontext gesamthaft zu analysieren und würdigen.
Die Behörden- und Gerichtspraxis in der Schweiz legt die Abredetatbestände gemäss Art. 5 Abs. 3 und 4 KG hingegen in rechtswidriger Weise immer extensiver und ohne Berücksichtigung des relevanten Kontexts aus. Dies stellte zuletzt auch der renommierte Prof. em. und ehemalige Vizepräsident der Schweizer Wettbewerbskommission Roger Zäch in einem aufsehenerregenden Aufsatz in der Aktuellen Juristischen Praxis fest (Roger Zäch, Restriktive Auslegung von Preisabreden im Sinne von Art. 5 Abs. 3 KG, AJP 2023, S. 686-698). Bestimmte Verhaltensweisen, die aufgrund ihres Kontexts unproblematisch sind, werden regelmässig allein aufgrund formaler Kriterien (z.B. Bezugnahme auf Preise oder Preiselemente) und ohne jeden Nachweis effektiver Wettbewerbsbeschränkungen als schwerwiegendste Verstösse gegen das Kartellrecht mit hohen Bussen geahndet. Während dies bspw. bei Submissionsabsprachen aufgrund ökonomisch fundierter Schadenstheorien gerechtfertigt ist, führte dies bei anderen Zusammenarbeitsformen wie z.B. horizontale Kooperationen über F&E oder die Spezialisierung, Arbeitsgemeinschaften, Einkaufsallianzen oder Nachhaltigkeitskooperationen zu Fehlurteilen, auch wenn diese sich teilweise definitionsgemäss auf Wettbewerbsparameter wie Preise und Menge beziehen. Bei letzteren ist aus ökonomischer Sicht und auch gemäss den jüngst revidierten Horizontalleitlinien der EU breit anerkannt, dass sie je nach Umständen prokompetitiv oder zumindest wettbewerbsneutral wirken. Die aktuelle Schweizer Behörden- und Gerichtspraxis droht damit, auch wettbewerbsfördernde oder zumindest wettbewerbsneutrale Verhaltensweisen zu verbieten und mit hohen Bussgeldern zu bedrohen, insbesondere etwa die erwähnten horizontale Kooperationen.
Unter anderem vor dem Hintergrund der erwähnten, in rechtwidriger Weise extensiven Auslegung der sanktionsbedrohten Vermutungstatbestände in der Schweizer Behörden- und Gerichtspraxis ist letztlich die von Herrn Ständerat Olivier Français Ende des Jahres 2018 eingereichte Motion (Motion 18.4282 – «Die Kartellgesetzrevision muss sowohl qualitative als auch quantitative Kriterien berücksichtigen, um die Unzulässigkeit einer Wettbewerbsabrede zu beurteilen«) zu sehen. Die Politik nimmt damit ein weit verbreitetes Unbehagen auf, wonach die Rechtsmittelinstanzen ihrer Kontrollfunktion im Bereich Kartellrecht nicht mehr nachkommen und selbst noch Treiber der erwähnten extensiven Praxis sind, die im Ergebnis den Wettbewerb mehr beeinträchtigt als schützt und für Unternehmen zu grosser, investitionshemmender Rechtsunsicherheit führt. Diese Entwicklung ist wirtschaftsfeindlich und mit der rechtstaatlichen Tradition der Schweiz unvereinbar und daher abzulehnen. Die Motion ist Teil der aktuell vom Bundesrat vorgesehenen Teilrevision des Kartellgesetzes und wird aktuell im Parlament bzw. den entsprechenden Kommissionen (vor-)beraten. Es ist daher nun am Parlament, der identifizierten, schädlichen Überregulierung Schranken zu setzen.
CORE Attorneys ist eine Boutique-Anwaltskanzlei in der Schweiz, deren Schwerpunkt in den Bereichen Wettbewerbs- und Kartellrecht, Regulierung und Vertriebsrecht liegt. Besuchen Sie unsere News & Insights und folgen Sie uns auf LinkedIn für regelmässige Updates zu allen unseren Schwerpunktgebieten.
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