Über uns
CORE Attorneys ist eine Schweizer Boutique-Anwaltskanzlei mit den Schwerpunkten Wettbewerbs- und Kartellrecht, Regulierung und Vertriebsrecht.
Mit Urteil vom 4. Februar 2021 qualifizierte das Bundesgericht die unverbindlichen Preisempfehlungen von Pfizer für den Vertrieb des Medikaments Viagra – entgegen dem Bundesverwaltungsgericht – als eine kartellrechtswidrige, direkt sanktionierbare vertikale Preisbindung in Form eines abgestimmten Verhaltens. Das bereits vielbeachtete Urteil lässt wohl zu Recht die Frage aufkommen, ob und gegebenenfalls wie Preisempfehlungen kartellrechtlich überhaupt noch ausgesprochen werden können. Nachfolgend wird das Urteil zusammengefasst und kritisch eingeordnet. Unternehmen mit Vertriebsaktivitäten bzw. unabhängigen Händlern in der Schweiz sollten ihre Praxis zu Preisempfehlungen in jedem Fall prüfen.
Hintergrund
Die Pharmaunternehmen Pfizer, Eli Lilly und Bayer haben über eine externe Datenbankbetreiberin Preisempfehlungen für die Medikamente Viagra, Cialis und Levitra in elektronischer Form an die Verkaufsstellen abgegeben. In der Datenbank war der Bar- bzw. Strichcode der jeweiligen Produkte enthalten. Beim Einscannen der entsprechenden Artikel erschien in der Folge tagesaktuell der empfohlene Preis automatisch im Kassensystem des jeweiligen Händlers. Ein Abweichen von den direkt an den Verkaufspunkt gelieferten Publikumspreisempfehlungen war grundsätzlich möglich, bedeutete für die Vertriebsnehmer jedoch einen zusätzlichen Aufwand durch eigene Kalkulationen und eine Anpassung der Software. Den Preisempfehlungen sind während mehreren Jahren gemäss den bundesgerichtlich bestätigten Berechnungen der Wettbewerbskommission (WEKO) knapp 90% der Apotheken (89.3%) und mehr als 80% der selbstdispensierenden Ärzte (81.7%) gefolgt.
Der vorliegende Fall weist eine lange Verfahrensgeschichte auf und ist selbst nach mehr als elf Jahren noch immer nicht abgeschlossen:
Unverbindliche Preisempfehlung als unzulässige abgestimmte Verhaltensweise
Da eine Wettbewerbsabrede im Sinne einer Vereinbarung im Vornherein ausgeschlossen werden konnte, befasste sich das Bundesgericht in seinem Urteil hauptsächlich mit der Frage, ob die von Pfizer abgegebenen Preisempfehlungen als Wettbewerbsabreden i.S.v. Art. 4 Abs. 1 KG in der Form einer abgestimmten Verhaltensweise qualifizierten. Hierfür bedarf es nach Ansicht des Bundesgerichts kumulativ (i) einer Abstimmung, (ii) eines entsprechenden Abstimmungserfolgs (Marktverhalten/Befolgungsgrad), (iii) eines kausalen Konnexes zwischen Abstimmung und Abstimmungserfolg und (iv) einer bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung. Diese Elemente sah es vorliegend trotz der von Pfizer explizit als unverbindlich bezeichneten Preisempfehlungen als gegeben an.
Die verlangte minimale Kommunikation sah das Bundesgericht vorliegend aufgrund der Ausgestaltung des elektronischen Systems, durch welches die empfohlenen Preise automatisch tagesaktuell im Kassensystem der Händler erschienen, als gegeben an. Ebenfalls relevant war, dass das Verhalten täglich über Monate und Jahre stattfand und einige Händler – die Abstimmung verstärkend – bei Pfizer um die Mitteilung unverbindlicher Preisempfehlungen ersucht haben (vgl. hierzu E. 5.2 des Urteils).
Im vorliegenden Fall lag der Befolgungsgrad der Vertriebsnehmer gemäss Bundesgericht basierend auf den WEKO-Berechnungen bei rund 90% bzw. über 80% und damit über der nach Ansicht des Bundesgerichts massgeblichen Schwelle von 50%. Bei diesem Befolgungsgrad miteingerechnet sind Verkaufsstellen, welche die Preisempfehlung zwar nicht strikt befolgt hatten, aber lediglich mit punktuellen, das heisst in weniger als der Hälfte der einzelnen Verkäufe anstatt mit generellen bzw. systematischen Rabatten eine Ermässigung auf den empfohlenen Preis gewährten (vgl. hierzu E. 5.3 des Urteils).
Simulierte Preisempfehlung als unzulässige, direkt sanktionierbare vertikale Preisbindung | Keine Rechtfertigung
Nach Auffassung des Bundesgerichts zielen vertikale Preisempfehlungen auf eine Beeinflussung der Händler in deren Preisfestsetzung ab. Vorliegend irrelevant war für das Bundesgericht, dass die Preisempfehlungen explizit als «unverbindlich» bezeichnet wurden, weil es eine abgestimmte Verhaltensweise als erstellt erachtete, die zudem objektiv geeignet war, eine Wettbewerbsbeschränkung herbeizuführen. Aufgrund des hohen Befolgungsgrads schloss das Bundesgericht auf eine Festabrede im Sinne von Art. 5 Abs. 4 KG, die es angesichts seiner Rechtsprechung in Sachen Gaba in der Folge als per se erheblich qualifizierte (vgl. auch hier). Die von Pfizer vorgetragenen wirtschaftlichen Effizienzgründe (Verhinderung einer doppelten Marginalisierung und Senkung von Transaktionskosten) konnten nach Ansicht des Bundesgerichts die Beschränkung des Wettbewerbs nicht rechtfertigen. Es schützte den Entscheid der WEKO und wies die Angelegenheit zur Sanktionsbemessung an die Vorinstanz zurück.
Kritische Einordnung
Das Urteil schafft Rechtsunsicherheit und führte bei weiter Interpretation zu einem de-facto-Verbot von Preisempfehlungen
Mit seinem Urteil schafft das Bundesgericht erhebliche Unsicherheit hinsichtlich der Frage, ob und unter welchen Umständen Preisempfehlungen im Vertikalkontext in der Schweiz noch zulässig sind.
Versteht man das Urteil weit, führt es zu einem de-facto-Verbot von Preisempfehlungen im Vertriebskontext, da es nach deren Kundgabe nicht mehr in der Hand der Vertriebsgeber liegt, inwieweit die Händler diese befolgen. Das Bundesgericht hat insoweit klargestellt, dass es nicht darauf ankommt, ob die Preisempfehlungen als unverbindlich deklariert werden oder ob sich diese infolge Drucks oder dem Setzen von Anreizen wie Preisbindungen zweiter Hand auswirken. Bei der Kundgabe von Preisempfehlungen (und auch bei deren freiwilligen Befolgung durch die Vertriebsnehmer) besteht damit im Lichte des bundesgerichtlichen Urteils neu ein erhöhtes Kartellrechtsrisiko.
Das Urteil ist eng auszulegen | Gewisse unverbindliche Preisempfehlungen sind trotz der Verschärfung des Bundesgerichts weiterhin zulässig
Unserer Ansicht nach hat das Bundesgericht mit seinem Urteil kein generelles Verbot von Preisempfehlungen im Vertikalkontext beabsichtigt. Es bestehen gute Gründe, das Urteil eng zu interpretieren. So hat das Bundesgericht die vorliegend relevante Verhaltensweise von einer «echten» Preisempfehlung abgegrenzt (E. 6.4.6 des Urteils) und selbst wiederholt darauf hingewiesen, dass es bei der vorliegend in Frage stehenden Verhaltensweise um die jahrelang ausgeübte automatisierte und tagesaktuelle Einpflegung von Preisempfehlungen im Point of Sale der Vertriebsnehmer geht, die ohne zusätzlichen Aufwand durch den jeweiligen Vertriebsnehmer im Kassensystem direkt als Verkaufspreise Anwendung finden. Der Fall lässt sich somit auch nach Ansicht des Bundesgerichts nicht mit Preisempfehlungen etwa in Katalogen vergleichen, denn dort sei es nicht so, dass die Herstellerin dem Händler die Preisempfehlungen wiederholt und über das Kassensystem übermittelt (vgl. E. 5.6. des Urteils). Je nach Ausgestaltung sind Preisempfehlungen daher unseres Erachtens auch im Lichte des bundesgerichtlichen Urteils unverändert möglich und zulässig.
Das Urteil führt zu praktischen Herausforderungen für Hersteller und Händler
Die weitere Praxis der WEKO und der Gerichte wird hoffentlich bald zu einer Reduktion der vom Bundesgericht geschaffenen Rechtsunsicherheit führen und zeigen, wo die genauen Grenzen des Zulässigen sind. Die rasche Publikation einer konkreten Wegleitung für Unternehmen wäre wünschenswert. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Unternehmen aus Risikoüberlegungen ganz auf dieses sinnvolle und namentlich auch aus Sicht der Konsumenten nutzbringende Instrument verzichten.
In vielen Industriezweigen wäre auch ein allgemeines Verbot der automatisierten Übernahme von Preisempfehlungen ohne geeignete Ersatzlösung in praktischer Hinsicht problematisch, ineffizient und tendenziell preissteigernd sowie technologiefeindlich. Während grosse Vertriebsnehmer den administrativen Aufwand aufgrund von Skaleneffekten noch stemmen könnten, kämen kleinere Vertriebsnehmer wohl schnell an ihre Grenzen und drohten aus dem Markt auszuscheiden. Eine befeuerte Marktkonzentration als Folge des Urteils war vom Bundesgericht kaum intendiert.
Das Urteil wirft auch in dogmatischer Hinsicht Fragen auf
Nebst diesen praktischen Fragestellungen wirft das Urteil auch in dogmatischer Hinsicht Fragen auf. Beispielsweise stellt sich die Frage, inwieweit das Konzept der abgestimmten Verhaltensweise im Vertikalkontext überhaupt seine Berechtigung hat, müssen Vertriebsgeber und -nehmer im Rahmen ihres Vertriebsverhältnisses doch notwendigerweise miteinander auf mehr oder minder intensive Fühlungnahme gehen, anders als Wettbewerber im horizontalen Verhältnis. Es ist denn auch bezeichnend, dass sich das Bundesgericht in seinem Urteil bezüglich der abgestimmten Verhaltensweise ausschliesslich auf europäische Entscheide bezieht, die im Kontext horizontaler Kartelle ergangen waren. Ferner ist das Kriterium des Befolgungsgrades aus Sicht der Vertriebsgeber in hohem Grade unbefriedigend, da sie auf diesen keinen Einfluss haben und auch nicht haben dürfen. Gemäss der europäischen Regelung können sich Vertriebsgeber der kartellrechtlichen Verantwortlichkeit dadurch entziehen, dass sie hinsichtlich der Einhaltung der Preisempfehlung weder Druck ausüben noch Anreize setzen. Was also soll nun aber ein Vertriebsgeber in der Schweiz vorkehren, wenn er feststellt, dass sich die Vertriebsnehmer zunehmend an seine Preisempfehlungen halten? Intervenieren? Sich von der eigenen Preisempfehlung distanzieren? Ist Preismonitoring und damit die konsequente und regelmässige Überwachung der Preisfestsetzung der Vertriebsnehmer durch den Vertriebsgeber damit zulässig bzw. aus Gründen der wettbewerbsrechtlichen Compliance gar geboten? Überlegungen dazu fehlen leider im Urteil.
Fragwürdig erscheint schliesslich auch, dass das Bundesgericht die Frage der Rechtfertigung der Verhaltensweise nach Art. 5 Abs. 2 KG kurzerhand selbst abschlägig beantwortet. Soweit ersichtlich tat es dies, ohne dass hierfür das nötige Tatsachenfundament vorlag. Das Bundesverwaltungsgericht hielt in seinem Urteil vom 19. Dezember 2017 ausdrücklich fest, dass die Fragebögen der Wettbewerbsbehörden an die selbst-dispensierenden Ärzte und Apotheken keine Fragen zu allfälligen Effizienzgründen enthalten hätten. Dies, obschon es aufgrund der Untersuchungsmaxime grundsätzlich Sache der Wettbewerbsbehörden gewesen wäre, solche von Amtes wegen zu ermitteln (vgl. dessen E. 10.1). Aus dem Bundesgerichtsurteil ist nicht ersichtlich, dass dieser gravierende prozedurale Mangel in der Zwischenzeit geheilt worden wäre.
Handlungsbedarf für Vertriebsgeber (Hersteller) und -nehmer (Händler)
Das Urteil des Bundesgerichts schafft für Vertriebsgeber und Vertriebsnehmer gleichermassen Handlungsbedarf. Dabei sollten die folgenden Punkte beachtet werden:
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