Über uns
CORE Attorneys ist eine Schweizer Boutique-Anwaltskanzlei mit den Schwerpunkten Wettbewerbs- und Kartellrecht, Regulierung und Vertriebsrecht.
Das Schweizer Parlament hat im März 2021 den Gegenvorschlag zur sog. Fair-Preis-Initiative angenommen. Dieser wird Anfang 2022 in Kraft treten. Nebst dem Verbot des privaten Geoblockings erweitert er das Schweizer Kartellgesetz um das Konzept der relativen Marktmacht und damit um Verhaltenspflichten für Unternehmen, deren unilaterales Verhalten bislang keiner wettbewerbsrechtlichen Kontrolle unterlag. Nachfolgend zeigen wir auf, welche Chancen und Risiken diese Gesetzesrevision für Unternehmen bringt und was diese heute bereits vorkehren können und sollten.
Hintergrund
National- und Ständerat haben am 19. März 2021 den indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Stop der Hochpreisinsel – für faire Preise» (Fair-Preis-Initiative) angenommen. Damit einher geht eine weitgehende Gesetzesrevision des Kartellgesetzes (KG) und des Bundesgesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG). Die Forderungen der Fair-Preis-Initiative werden damit grösstenteils umgesetzt. Vorbehältlich des Zustandekommens eines Referendums haben deren Initianten daher auch bereits den Rückzug der Initiative angekündigt. Initiative sowie Gegenvorschlag bezwecken die Bekämpfung der Hochpreisinsel Schweiz. Namentlich soll das Abschöpfen der Schweizer Kaufkraft durch Schweiz-Zuschläge verhindert werden. Nach dem Willen des Parlaments soll dies durch die Einführung des Konzepts der relativen Marktmacht im KG und eines Geoblocking-Verbots im UWG erzielt werden. Gemäss Beschluss des Bundesrates vom 17. September 2021 werden die neuen Gesetzesbestimmungen per 1. Januar 2022 in Kraft treten.
Neu unterliegen auch relativ marktmächtige Unternehmen der Missbrauchskontrolle
Mit Inkrafttreten des indirekten Gegenvorschlags wird die bislang nur auf marktbeherrschende Unternehmen anwendbare Verhaltenskontrolle gemäss Art. 7 KG auf relativ marktmächtige Unternehmen ausgeweitet. Damit ist es beispielsweise neu auch ’nur› relativ marktmächtigen Unternehmen verboten, ohne sachliche Rechtfertigung (Legitimate Business Reasons) Geschäfts- und Lieferbeziehungen zu verweigern, Preise zu diskriminieren oder unangemessene Konditionen zu erzwingen.
Zudem wird der Beispielkatalog missbräuchlicher Verhaltensweisen nach Art. 7 Abs. 2 KG ergänzt. Gemäss dieser Ergänzung (Art. 7 Abs. 2 lit. g KG) dürfen relativ marktmächtige oder marktbeherrschende Unternehmen Nachfrager nicht darin einschränken, «Waren oder Leistungen, die in der Schweiz und im Ausland angeboten werden, im Ausland zu den dortigen Marktpreisen und den dortigen branchenüblichen Bedingungen zu beziehen.» Diese Bestimmung zielt insbesondere auf die internationale Preisdiskriminierung innerhalb von relativ marktmächtigen Konzernen, die bislang bezüglich ihres unilateralen Verhaltens keiner wettbewerbsrechtlicher Kontrolle unterlagen. Ein Schweizer Händler soll damit beispielsweise gegenüber einem relativ marktmächtigen Hersteller das Recht erhalten, eine bestimmte Ware vor Ort in Deutschland zu den dort lokal anwendbaren, im Vergleich zu den Schweizer Preisen mutmasslich günstigeren Konditionen zu beziehen, um diese anschliessend in der Schweiz weiterzuverkaufen.
Definition der relativen Marktmacht
Als relativ marktmächtig gilt gemäss dem neuen Art. 4 Abs. 2bis KG ein Unternehmen, von dem «andere Unternehmen beim Angebot oder bei der Nachfrage einer Ware oder Leistung in einer Weise abhängig sind, dass keine ausreichenden und zumutbaren Möglichkeiten bestehen, auf andere Unternehmen auszuweichen.«
Ob relative Marktmacht vorliegt, lässt sich nicht allgemein beantworten. Es bedarf einer Einzelfallprüfung für jedes Unternehmen (Abnehmer und Lieferanten) und jedes Produkt bzw. jede Dienstleistung. Demnach kann ein Unternehmen beispielsweise gegenüber Geschäftspartner A relativ marktmächtig sein und gegenüber Geschäftspartner B nicht, wobei es gegenüber Geschäftspartner A nur in Bezug auf Produkt X, aber nicht in Bezug auf Produkt Y relativ marktmächtig ist.
Sowohl das deutsche als auch das österreichische Recht kennen das Konzept der relativen Marktmacht. In Anlehnung insbesondere an die deutsche Praxis, an der sich die Schweizer Behörden mutmasslich orientieren werden, lassen sich die folgenden Fallgruppen unterscheiden:
Trotz jahrzehntelanger Erfahrung mit dem Konzept der relativen Marktmacht ist die Rechtsprechung etwa in Deutschland immer noch vergleichsweise konturlos. Je nach den konkreten Umständen kann das Vorliegen einer relativ marktmächtigen Stellung daher bis zu einem letztinstanzlichen Entscheid umstritten sein.
Drohende Folgen eines Verstosses gegen das Missbrauchsverbot
Ein Verstoss gegen das Missbrauchsverbot führt für relativ marktmächtige Unternehmen – anders als bei marktbeherrschenden Unternehmen – nicht direkt zu Geldbussen. Es drohen aber langwierige und teure Verfahren, Unterlassungs-, Real- und Schadenersatzforderungen sowie die Ungültigkeit der betroffenen Vertragsklauseln.
Durchsetzung des Missbrauchsverbots
In einem NZZ-Artikel hat die Schweizer Wettbewerbskommission (WEKO) bereits angekündigt, dass sie nach Inkrafttreten der neuen Regelungen relativ rasch Leitentscheide fällen und danach die Beschwerdeführer an die Zivilgerichte verweisen will. Wenn es nach dem Willen der WEKO geht, werden daher nach der Veröffentlichung von Leitentscheiden im Rahmen des Verwaltungsverfahrens primär die Zivilgerichte das Verbot des Missbrauchs einer relativ marktmächtigen Position durchsetzen müssen.
Das internationale Privatrecht der Schweiz sieht bei Verstössen gegen das Kartellrecht unter anderem eine Zuständigkeit am Erfolgsort vor. Liegt dieser in der Schweiz, beispielsweise weil die mutmasslich geschädigten Unternehmen ihre Marktaktivitäten auch in der Schweiz haben, werden diese somit unabhängig vom Handlungsort vor Schweizer Zivilgerichten auch gegen im Ausland domizilierte Gesellschaften vorgehen können, um die Frage eines allfälligen Missbrauchs einer relativ marktmächtigen Stellung überprüfen zu lassen.
Neu wird auch das private Geoblocking verboten
Zusätzlich zur Einführung der relativen Marktmacht hat das Parlament mittels Revision des UWG das private Geoblocking verboten. Nach Inkrafttreten des neuen Art. 3a UWG handelt unlauter und damit unzulässig, wer im Fernhandel ohne sachliche Rechtfertigung Kunden in der Schweiz aufgrund ihrer Nationalität, ihres Wohnsitzes, ihrer Niederlassung, des Sitzes ihres Zahlungsdienstleisters oder des Ausgabeorts ihres Zahlungsmittels:
Diese neue Regelung soll verhindern, dass die Schweiz im Online-Handel ohne sachliche Begründung abgeschottet wird und Schweizer Nachfrager nicht zu ausländischen Preisen einkaufen können. Geschäftspraktiken wie dem automatisierten Weiterleiten (sog. Redirecting oder Rerouting) auf die Webshops mit Schweizer Preisen aufgrund einer Schweizer IP-Adresse oder dem Abbruch der Kreditkatenzahlung bei Identifikation einer Schweizer Karte soll damit ein Riegel geschoben werden. Bei der Formulierung des Gesetzestextes diente die sog. Geoblocking-Verordnung in der EU (Verordnung 2018/302) als Vorlage. Diese ist seit 2018 in Kraft. Die neue UWG-Regelung sieht überdies Ausnahmen für gewisse Branchen vor, wie etwa für nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, Finanzdienstleistungen, Dienstleistungen im öffentlichen Verkehr, Glücksspiele, Lotterien oder Spielbanken und Wetten. Für die Durchsetzung des neuen Geoblocking-Verbots werden die Zivilgerichte zuständig sein. Inwiefern sich diese dabei an der europäischen Rechtspraxis zum Geoblocking orientieren werden, wird sich zeigen.
Kritische Einordnung der Gesetzesrevision | Chancen und Risiken für Unternehmen
Während das KG bisher primär bezweckt, den Wettbewerb als solchen zu schützen (Systemschutz), werden mit der Einführung der relativen Marktmacht zusätzlich abhängige Unternehmen vor bestimmten Verhaltensweisen geschützt (Individualschutz). Gemäss unseres Erachtens zutreffender Ansicht ist die relative Marktmacht daher nicht eine graduell abgeschwächte Form der Marktbeherrschung, sondern ein gänzlich andersartiges Konzept (vgl. hierzu den Beitrag aus ökonomischer Sicht von Samuel Rutz und Christian Jaag von Swiss Economics vom 24. Juli 2020). Inwieweit mit deren Einführung tatsächlich ein Beitrag zur Bekämpfung der Hochpreisinsel Schweiz geleistet wird, ist umstritten.
Aus Unternehmenssicht bietet die Einführung der relativen Marktmacht je nach Ausgangslage Chancen und Risiken. Potentiell von einem relativ marktmächtigen Unternehmen abhängigen Unternehmen kann sie neue Verhandlungsspielräume eröffnen. Diese können beispielsweise von besseren Einkaufskonditionen profitieren oder einen relativ marktmächtigen Abnehmer zum Bezug von Waren oder Dienstleistungen verpflichten. Ein Anwendungsfeld dürften insbesondere auch digitale Märkte sein, wenn es um den Zugang zu Plattformen oder Daten geht. Umgekehrt wird der unternehmerische Spielraum von marktmächtigen Unternehmen hierdurch eingeschränkt. Vor Zivilgerichten klagende Unternehmen werden letztlich auch die vorliegend wohl erhöhten Prozessrisiken insbesondere betreffend die Verfahrenskosten und Parteientschädigung in ihre Risikoanalyse einbeziehen müssen.
Was Unternehmen bereits heute vorkehren können und sollten
Um die skizzierten Chancen und Risiken infolge der Einführung des Konzepts der relativen Marktmacht bestmöglich nutzen bzw. einschränken oder allenfalls ganz vermeiden zu können, sollten sich Unternehmen möglichst frühzeitig mit den neuen Gesetzesbestimmungen auseinandersetzen. Ein Mapping von Abnehmern und Lieferanten für die einzelnen Produkte und Dienstleistungen kann hierbei eine gute Grundlage bieten, um mögliche Chancen und Risiken zu identifizieren. Entscheidend sind dabei nicht die allgemeinen Markt-, sondern die bilateralen Geschäftsverhältnisse.
Die Ergebnisse des Mappings bilden die Grundlage für die Festlegung konkreter Ziele und Massnahmen. Im Hinblick auf anstehende Vertragsverhandlungen kann etwa eine durch Belege dokumentierte, fundierte Argumentation vorbereitet werden, die gegen eine eigene relative Marktmacht bzw. für das Bestehen der relativen Marktmacht eines Geschäftspartners spricht. Abhängig von der Ausgangslage sind gegebenenfalls die Vertriebs- und Lieferverträge oder Wegleitungen für den Umgang mit bestimmten Kundenanfragen anzupassen. Auch begleitende Schulungen des Personals (insbesondere des Verkaufspersonals im Ausland) können helfen, den neuen Gesetzesbestimmungen genügend Rechnung zu tragen.
Hinsichtlich der Einführung des Geoblocking-Verbots ist rechtzeitig abzuklären, inwiefern künftig potentiell unzulässige Schranken existieren und ob ein Ausnahmetatbestand vorliegt oder sich diese sachlich rechtfertigen lassen. Je nach Ergebnis dieser Prüfung sind im Anschluss geeignete (technische) Massnahmen zu ergreifen, um das Geoblocking innert nützlicher Frist aufzuheben.
CORE Attorneys ist eine Boutique-Anwaltskanzlei in der Schweiz, deren Schwerpunkt in den Bereichen Wettbewerbs- und Kartellrecht, Regulierung und Vertriebsrecht liegt. Besuchen Sie unsere News & Insights und folgen Sie uns auf LinkedIn für regelmässige Updates zu allen unseren Schwerpunktgebieten.
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