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CORE Attorneys ist eine Schweizer Boutique-Anwaltskanzlei mit den Schwerpunkten Wettbewerbs- und Kartellrecht, Regulierung und Vertriebsrecht.
Am 9. Juli 2021 publizierte die Europäische Kommission die Entwürfe der revidierten Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien. Interessierte Kreise haben bis zum 17. September 2021 Zeit, zu diesen Entwürfen Stellung zu nehmen. Die überarbeiteten Vorschriften sollen am 1. Juni 2022 in Kraft treten. Im Sinne einer ersten Übersicht werden nachfolgend die wichtigsten Änderungen im Vergleich zu den gegenwärtig anwendbaren Regelungen dargestellt und kritisch gewürdigt (einschliesslich einer Vergleichsversion des Entwurfs der überarbeiteten Vertikal-GVO). Zudem besprechen wir die Relevanz der vorgeschlagenen Revision für die Schweiz.
Hintergrund
Im Oktober 2018 lancierte die Europäische Kommission ein umfassendes Überarbeitungsverfahren zur Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen (Vertikal-GVO) und den dazugehörigen Leitlinien für vertikale Beschränkungen (Vertikal-Leitlinien). Ziel der Revision ist es, die Vorschriften an die Marktentwicklungen der letzten zehn Jahre (unter anderem das Wachstum des E-Commerce und der Online-Plattformen) anzupassen.
Am 9. Juli 2021 veröffentlichte die Europäische Kommission die Entwürfe der revidierten Vertikal-GVO (E-Vertikal-GVO) und Vertikal-Leitlinien (E-Vertikal-Leitlinien, derzeit nur in englischer Sprache verfügbar) sowie Erläuterungen zu den revidierten Entwürfen. Interessierte Kreise haben nun bis zum 17. September 2021 Zeit, zu diesen Entwürfen Stellung zu nehmen.
Wichtigste Änderungen
Die vorgeschlagenen Änderungen gemäss den überarbeiteten Entwürfen der Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien zielen in den Worten der Europäischen Kommission darauf ab:
Im Bereich des zweigleisigen Vertriebs (sog. «Dual Distribution»), das heisst des Vertriebs einer Vertriebsgeberin, die durch ihren Eigenvertrieb mit ihren Vertriebsnehmerinnen (teilweise) in Konkurrenz steht, ist gleichzeitig eine Ausweitung und Beschränkung des bestehenden Regelwerks vorgesehen. Neu bezieht sich der Wortlaut der «Dual-Distribution»-Ausnahmeregeln gemäss dem Entwurf der Vertikal-GVO nicht mehr ausschliesslich auf Herstellerinnen, sondern auch auf Grosshändler und Importeure. Während der subjektive Anwendungsbereich ausgedehnt wird, soll gleichzeitig der objektive Anwendungsbereich auf Fälle beschränkt werden, in denen der gemeinsame Marktanteil der beteiligten Unternehmen auf Retail-Ebene maximal 10% beträgt (vgl. Art. 2 Abs. 4 E-Vertikal-GVO). Daneben soll «Dual Distribution» auch in Fällen freigestellt sein, in denen die allgemeinen Marktanteilsschwellen von 30% (Art. 3 E-Vertikal-GVO) eingehalten werden. Hiervon ausgenommen soll jedoch der Informationsaustausch zwischen den betreffenden Unternehmen sein (vgl. Art. 2 Abs. 5 E-Vertikal-GVO). Dessen Beurteilung soll nach den Vorschriften für horizontale Vereinbarungen vorgenommen werden.
Neu sollen die bislang freigestellten Paritäts- bzw. Meistbegünstigungsklauseln, das heisst Verpflichtungen, wonach eine Unternehmung ihrer Vertragspartnerin mindestens genauso günstige Bedingungen anbieten muss, wie auf anderen Vertriebskanälen, nur noch eingeschränkt freigestellt sein. Sog. weite (plattformübergreifende) Paritätsklauseln von Online-Vermittlungsdiensten sollen in Bezug auf Retail-Konditionen nicht mehr in den Genuss der Freistellung kommen (vgl. Art. 5 Abs. 1 lit. d E-Vertikal-GVO). Demgegenüber sollen sog. enge Paritätsklauseln, das heisst Paritätsverpflichtungen bezüglich direkter Vertriebskanäle sowie allgemein Paritätsverpflichtungen für den Grosshandel, weiterhin freigestellt bleiben, sofern die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der E-Vertikal-GVO gegeben sind.
In der E-Vertikal-GVO werden zudem die im Rahmen von Alleinvertriebssystemen, Selektivvertriebssystemen und freien Vertriebssystemen freigestellten Weiterverkaufsbeschränkungen transparenter geregelt und punktuell ergänzt (vgl. Art. 4 lit. b-d E-Vertikal-GVO). Enthalten sind neu insbesondere eine Legaldefinition des Begriffs des aktiven Verkaufs (vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. l und m E-Vertikal-GVO) und Klarstellungen zum Zusammenspiel der verschiedenen Vertriebssysteme untereinander (Art. 4 lit. b ii), lit. c i) erstes Lemma und lit. d i) und ii) E-Vertikal-GVO). Neu eingeführt werden sollen die Möglichkeit des geteilten Alleinvertriebs sowie die Möglichkeit der Verpflichtung der Vertriebsnehmer zur Weitergabe der Beschränkung des aktiven Verkaufs an ihre Kunden (vgl. jeweils Art. 4 lit. b i) E-Vertikal-GVO).
Wichtige Änderungen sind im Bereich des Online-Handels beabsichtigt: Doppelpreissysteme (sogenanntes «Dual Pricing»), das heisst die Möglichkeit der Setzung unterschiedlicher Grosshandelspreise (des Vertriebsgebers gegenüber der Vertriebsnehmerin) für Online– und Offline-Verkäufe, sollen neu grundsätzlich keine Kernbeschränkung mehr darstellen und als freigestellt gelten, sofern diese als Anreiz oder als Vergütung für angemessene Investitionen dienen sollen und im Verhältnis zu den Kosten des jeweiligen Vertriebskanals steht. Gleichzeitig soll im Selektivvertrieb das sog. Äquivalenzerfordernis, das heisst das Erfordernis, dass die naturgemäss unterschiedlichen Kriterien für Online– und Offline-Kanäle insgesamt gleichwertig zu sein haben, aufgegeben werden. Auch der Verstoss gegen das Äquivalenzerfordernis wird in den E-Vertikal-Leitlinien nicht mehr als Kernbeschränkung erwähnt.
Gleichzeitig stellen die Regulierungsentwürfe klar, dass bezweckte Einschränkungen des Online-Verkaufs oder von Online-Werbekanälen als eine Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs und damit als Kernbeschränkungen gemäss Art. 4 E-Vertikal-GVO erachtet werden können (vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. n E-Vertikal-GVO; Rz. 192 und 194 der E-Vertikal-Leitlinien).
Des Weiteren enthalten die E-Vertikal-GVO und E-Vertikal-Leitlinien spezifische Bestimmungen und Hinweise zur Plattformwirtschaft und deren wettbewerbsrechtliche Verortung. Zum Beispiel wird in Art. 1 lit. d der E-Vertikal-GVO der Begriff «Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten» definiert und klargestellt, dass Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten im Kontext der Vertikal-GVO als Anbieter und nicht als Handelsvertreter qualifiziert werden (vgl. hierzu auch Kapitel 4.3 und 3.2.3 der E-Vertikal-Richtlinien).
Nebst diesen hauptsächlichen Änderungen enthält die E-Vertikal GVO eine Reihe kleinerer, in der Praxis aber bedeutender Änderungen. Beispielsweise entfällt dem Grundsatz nach die vertragsrechtlich schon immer fragwürdige Regelung, dass Wettbewerbsverbote, deren Dauer sich über den Zeitraum von fünf Jahren hinaus stillschweigend verlängert, als für eine unbestimmte Dauer vereinbart sind (vgl. Art. 5 Abs. 1 Vertikal-GVO). Vorausgesetzt werden soll hier, dass ein wirksamer Wechsel nach Ablauf der Fünfjahresfrist möglich ist, das heisst dass die Vertriebsnehmerin die Vereinbarung mit angemessener Kündigungsfrist und zu angemessenen Kosten effektiv wirksam neu aushandeln oder kündigen kann.
Eine informelle Vergleichsversion der vorgeschlagenen Änderungen in der E-Vertikal-GVO im Vergleich zu den gegenwärtig anwendbaren Regelungen der Vertikal-GVO finden Sie hier.
Vorläufige kritische Würdigung
Verschiedene der gemäss den Entwürfen der revidierten Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien vorgeschlagenen Änderungen sind unseres Erachtens begrüssenswert, da sie bestehende Regelungen übersichtlicher und klarer regeln und namentlich hinsichtlich des Verhältnisses von Offline– und Online-Verkauf den Vertriebsgebern gegenüber den Vertriebsnehmern tendenziell eine grössere Freiheit einräumen, gegenüber ihren Vertriebsnehmern zu bestimmen, wie sie ihre Dienstleistungen und/oder Produkte verkaufen und diese sie weiterzuverkaufen haben. Namentlich ist etwa der geplante Wegfall des unbestimmten Äquivalenzkriteriums ist zu begrüssen. Dieses warf in der Praxis immer wieder viele kaum abschliessbar zu beantwortende Fragen auf. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass das Verhältnis von Offline– und Online-Verkäufen auch in Zukunft viele Fragen aufwerfen wird. Auch bleiben viele Regelungen im Kern unverändert, wie etwa das Verbot von Preisbindung zweiter Hand.
Die vorgesehenen neuen Regelungen zu Plattformdiensten werden sich in der Praxis bewähren müssen und fügen sich in das allgemeine Bild ein, wonach die Europäische Kommission Plattformdiensten allgemein mit grosser Skepsis begegnet. Die Frage, ob dies tatsächlich der allgemeinen Wohlfahrt und der Prosperität des EU-Binnenmarktes dient, darf sicherlich kritisch hinterfragt werden.
In eine falsche Richtung geht aus unserer Sicht die Beschränkung der objektiven Anwendbarkeit der Freistellung in Bezug auf den zweigleisigen Vertrieb. Da der Informationsaustausch im «Dual-Distribution«-Kontext bei einem Marktanteil von über 10% auf Retail-Ebene nicht mehr von der Freistellung profitieren soll und die Grenzen des diesbezüglich Zulässigen in den meisten Fällen eine mit viel Ermessen verbundene Einzelfallprüfung erfordern, werden «Dual-Distribution»-Strategien angesichts der drohenden direkten Sanktionen bei einer Fehleinschätzung wohl abnehmen. Die damit wohl befeuerte Marktkonzentration durch vertikale Integration dürfte nicht gewollt sein.
Relevanz für die Schweiz
Die Revision der Vertikal-GVO und der Vertikal-Leitlinien ist aus Sicht von Schweizer Unternehmen und Behörden von grosser Bedeutung. Zum einen ist die Schweiz mit ihrem kleinen Binnenmarkt ein Exportland, weshalb viele Schweizer Unternehmen auf Exporte in die EU angewiesen sind. Schweizer Vertriebsgeber werden damit beim Vertrieb ihrer Dienstleistungen und/oder Waren in der EU vielfach direkt von den neuen Regelungen betroffen sein.
Weiter orientieren sich viele Jurisdiktionen weltweit am Regelwerk der EU. Deshalb ist anzunehmen, dass die revidierten Regelungen auch über die EU hinaus Auswirkungen auf Schweizer Unternehmen haben werden.
Schliesslich ist davon auszugehen, dass die Änderungen der Vertikal-GVO und der Vertikal-Leitlinien in der Schweiz zu einer entsprechenden Praxisänderung führen werden, orientiert sich die Schweizer Wettbewerbskommission (WEKO) doch – höchstrichterlich durch das Schweizer Bundesgericht bestätigt – bei der Auslegung und Anwendung von Art. 5 Abs. 4 des Schweizer Kartellgesetzes an der Rechtslage in der EU, die «[…] eine gleiche sowie auch gleich scharfe und auch nicht schärfere Regelung wie diejenige der Europäischen Union sein soll […]» (vgl. BGE 143 II 297 – Gaba, E. 6.2.3).
Werden die E-Vertikal-GVO und die E-Vertikal-Leitlinien als Bestandteil des sekundären europäischen Gemeinschaftsrechts umgesetzt, enthalten diese eine Reihe von Neuerungen, die vom Willen des Schweizer Gesetzgebers nicht mehr gedeckt sein dürften (vgl. BGE 143 II 297 – Gaba, E. 6.2.3). Eine behördliche Nachführung der Vertikalbekanntmachung als reine Verwaltungsverordnung durch die WEKO inklusive der dazugehörigen Erläuterungen, um die Parallelität zum Regelwerk der EU wiederherzustellen, dürfte unseres Erachtens aus rechtstaatlicher Sicht Fragen aufwerfen. Hierzu bedürfte es wohl vielmehr einer Gesetzesänderung als rechtliche Grundlage.
Bei einer solchen Gesetzesänderung könnte dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers, eine tatsächliche Parallelität zu den EU-Regelungen herzustellen, wieder Nachachtung geschaffen werden. Die WEKO und die Gerichte in der Schweiz sind in ihrer Praxis und Rechtsprechung nämlich im Vergleich zur Rechtslage in der EU vielfach strenger, zuletzt in Bezug auf unverbindliche Preisempfehlungen im Fall Viagra (vgl. unsere Besprechung des bundesgerichtlichen Urteils hier).
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